Wir bei OCTANORM möchten, dass Sie unsere Website so einfach, bequem und so gut wie möglich nutzen können. Für einige Funktionen, z. B. für die Anzeige personalisierter Inhalte oder für das Anmelden verwenden wir Cookies. Der Speicherung von Browser-Cookies müssen Sie zustimmen, da ansonsten einige dieser Funktionen nicht genutzt werden können. Bei Fragen stehen wir Ihnen jederzeit zur Verfügung unter webmaster@octanorm.de
25.03.2019

„WIR MÜSSEN GRUNDLEGEND NEU DENKEN.“

 
In einer idealen Welt: Auf den Einsatz welcher Materialien sollte verzichtet werden und auf welche Materialien sollte man in Zukunft stärker setzen?
Die Anforderungen an die Architektur werden immer komplexer, nicht nur beim Messebau. Um alle Funktionen zu erfüllen, kommen heute zahlreiche unterschiedliche Materialien zum Einsatz. Jedes Material übernimmt dabei nur eine Funktion. Um die Umweltbelastungen zu reduzieren, müssen wir hier grundlegend neu denken. Wir müssen uns von festgefahrenen und standardisierten Entwurfsund Konstruktionsprinzipien lösen sowie neue langlebige und recycelbare Konstruktionen mit einem möglichst geringen Einsatz von Ressourcen erschaffen. Materialien sollten dabei nicht länger losgelöst von Teilaspekten wie Form, Struktur, Raum und Umwelt betrachtet werden, sondern wir sollten Materialsysteme erschaffen, die durch das integrale Zusammenspiel von Material, Struktur und Technologie multifunktionale, anpassungsfähigeund gleichzeitig ökologisch effiziente Strukturen ermöglichen.

Das Thema Nachhaltigkeit bewegt heute jeden. Welche sind Ihrer Meinung nach die nachhaltigsten Materialien?
Jeder spricht von Nachhaltigkeit, aber das Thema ist so komplex, und Aussagen dazu können heute, wenn überhaupt, nur für einzelne vergleichbare Produkte getroffen werden. Doch Architekten und Ingenieure haben die Dringlichkeit erkannt und suchen nach neuen Lösungen, um den Ressourcenverbrauch und das Müllaufkommen zu reduzieren. Interessante Entwicklungen sind meines Erachtens beispielsweise im Bereich der Herstellung von Elementen mit funktional gradierten Materialeigenschaften zu finden. Deren Eigenschaften ändern sich, wie etwa die Härte, mindestens in einer Raumrichtung stetig. Auf diese Weise wird die innere Struktur eines Elements optimal an die lokalen Anforderungen angepasst und nur so viel Material eingesetzt wie erforderlich. Mit Hilfe von 3-D-Drucktechnologien sind beispielsweise schon heute sortenreine gradierte Strukturen im kleinen Maßstab möglich.

Alle sprechen von einer digitalisierten Welt. Hat die Digitalisierung Auswirkung auf die Materialien, die in Zukunft Verwendung finden?
Es kommen heute immer noch vorwiegend Werkstoffe wie Stahl mit einem einheitlichen Materialgefüge und einfach zu beschreibenden mechanischen Eigenschaften zum Einsatz. Dies könnte sich durch die Digitalisierung zukünftig ändern. Durch die Einführung von computergestützten Planungs-, Simulations- und Fertigungsverfahren können nun auch Werkstoffe mit komplexeren mechanischen Eigenschaften entworfen, simuliert und hergestellt werden. Wie bereits angesprochen, könnten auf diese Art beispielsweise hochgradig ausdifferenzierte gradierte Strukturen geschaffen werden.

An Ihrem Institut gibt es spannende Entwicklungen rund um biobasierte Materialien. Können Sie uns einen kurzen Überblick über die Vorzüge dieser Materialien geben?
Am Institut arbeiten wir seit einigen Jahren an der Entwicklung von biobasierten Kunststoffen. Diese Biokunststoffe vereinen die Vorteile von klassischen erdölbasierten Kunststoffen und natürlich vorkommenden Rohstoffen. Im Idealfall erhält man somit aus nachwachsenden Rohstoffen Werkstoffe, die sich frei formen lassen und nach Gebrauchsende klimaneutral verbrannt oder kompostiert werden können. Im Vergleich zu Glas ermöglichen Biokunststoffe lichtdurchlässige Bauteile mit geringem Gewicht und geringer Wärmeleitfähigkeit. Ähnlich wie bei faserverstärkten Kunststoffen können hier durch die Integration von Naturfasern die mechanischen und thermischen Eigenschaften optimiert werden.

Sind biobasierte Materialien schon heute alltagstauglich, und wo können sie am sinnvollsten eingesetzt werden?
Die Verpackungsindustrie nutzt bereits seit einigen Jahren das Potenzial der biologischen Abbaubarkeit von Biokunststoffen. Folien, Wegwerfbesteck und Joghurtbecher werden schon heute aus kompostierbaren Biokunststoffen hergestellt. Aufgrund der guten Formbarkeit und des geringen Gewichtes kommen biobasierte Werkstoffe auch zunehmend im Automobilbereich zum Einsatz. Bis Biokunststoffe jedoch in der Architektur zum Alltag gehören, liegt noch ein weiter Weg vor uns. Entwicklungen in diesem Bereich sind dabei auch immer kritisch zu betrachten, denn nicht immer führt der Einsatz eines nachwachsenden Rohstoffs zu einem nachhaltigen Produkt.

Auf der Website Ihres Instituts ist von „intelligenten Materialien“ die Rede. Was dürfen wir uns darunter vorstellen?
Architektur ist ständig wechselnden Anforderungen ausgesetzt. Sowohl das Klima im Außenraum, als auch die Wünsche der Nutzer verändern sich im Tages- und Jahresverlauf bzw. während der gesamten Lebensdauer. Dennoch sind unsere Konstruktionen heute meist starr und unbeweglich. Anpassung findet nur vereinzelt in sehr elementarer Form, z. B. bei beweglichen Sonnenschutzlamellen, statt. Diese Systeme bestehen jedoch aus zahlreichen einzelnen Komponenten und externen elektrischen und mechanischen Aktuatoren bzw. Stellmotoren. Daraus resultieren ein hoher technischer Aufwand mit entsprechendem Wartungsbedarf, hohe Kosten sowie ein hoher Energiebedarf für die Funktionalität. Ein zentrales Ziel unserer Forschung ist es daher, ressourcenschonende multifunktionale Materialsysteme zu entwickeln, die sich an wechselnde äußere Bedingungen und interne Nutzungsanforderungen effizient anpassen können.

Das Thema unseres Magazins ist Flexibilität. Welche Materialien lassen uns in Zukunft noch flexibler werden?
Aktuelle Materialforschungen zeigen, dass mit Hilfe von digitalen Fertigungsmethoden innovative anpassungsfähige Strukturen aus diversen Ausgangsmaterialien möglich sind. Am Institut untersuchen wir bereits seit einigen Jahren das Potenzial von Faserverbundwerkstoffen in der Architektur. Forschungsprojekte haben hier gezeigt, dass sich mit Hilfe von Faserverbundwerkstoffen effiziente, schlanke und nachgiebige Verschattungssysteme mit integrierter pneumatischer Aktorik entwickeln lassen, die sich optimal an die Sonnenverhältnisse anpassen lassen. Während klassische Systeme bei komplexen Fassadengeometrien schnell an ihre Grenzen kommen, bieten diese Systeme durch die parametrisierte Ausdifferenzierung ein hohes Anpassungspotenzial.

Bei Ihren Projekten, wie dem Elytra Filament Pavillon für Vitra wurden Roboter eingesetzt. Welche Rolle spielt der Mensch in Zukunft noch bei der Entwicklung von und dem Umgang mit Materialien?

Robotische Fertigungsverfahren eröffnen uns ganz neue Möglichkeiten. Innovationen auf diesem Gebiet entstehen dabei aber nur, wenn verschiedene Disziplinen erfolgreich von Beginn an eng zusammenarbeiten. Um neue materialgerechte und lokal angepasste Strukturen zu erschaffen, müssen gemeinsam integrierte Datenmodelle und durchgängige Prozessketten entwickelt werden. Der Architekt entwirft also zukünftig nicht mehr die finale Form, sondern er entwickelt Prozesse. Wichtig in meinen Augen ist dabei vor allem, diese neuen Technologien als Chance zu sehen und nicht als etwas, das mich in meiner Kreativität einengt.

Angenommen, Sie und Ihre Studentinnen und Studenten hätten alle Freiheiten, einen Messestand zu entwerfen; wie könnte dieser aussehen und welche Materialien würden Sie gerne einsetzen?
Unser Anliegen ist es immer, mit Hilfe von Demonstratoren das Innovationspotenzial neuer Technologien in der Architektur zu untersuchen und aufzuzeigen. Um uns von festgefahrenen Strukturen zu lösen, nutzen wir oftmals die Natur als Inspirationsquelle. In Kooperation mit dem Institut von Prof. Achim Menges (ICD) entstand so in der Vergangenheit schon ein Messestand für die Universität Stuttgart. Mit Hilfe von Industrierobotern wurde hier eine effiziente bioinspirierte Leichtbaustruktur aus faserbasiertem Verbundmaterial kernlos gewickelt. Der modulare Messestand kann zum Transport auf minimalem Raum verstaut, und in zahlreichen unterschiedlichen Konfigurationen aufgebaut werden. Die hochgradig ausdifferenzierte Faserverbundstruktur erzeugt dabei eine ganz neue, ausdruckstarke Erscheinungsform, die z. B. auf der Hannover Messe 2015 für viel Aufmerksamkeit sorgte.

Frau Schieber, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Mehr zur Forschungsarbeit von Frau Schieber und ihren Kolleginnen und Kollegen erfahren Sie unter www.itke.uni-stuttgart.de.
 
G-Schieber_013_Octanorm_280x300.jpg

Ausgezeichnete Referenzen:
Dipl.-Ing. Gundula Schieber verdiente sich ihre ersten Sporen in der Praxis in einem Architekturbüro und gewann mehrere Architekturförderpreise.